Immer wieder sind gute Bücher weg. Nun ist das Buch „Entsichert. Krieg als Massenkultur im 21. Jahrhundert“ von Tom Holert und Mark Terkessidis wieder da.

entsichert

Es ist erstaunlich, daß die Bücher von Autoren des Jahrgangs 1962 so selten eine Rolle spielen. Es sind oft genug große Würfe, die nicht genügend anerkannt werden. Dieses Buch ist ein großer Wurf. Es zeigt mit beispielhaften Zugängen, wie der Krieg in der Massenkultur bzw. Zivilisation heute überall partiell oder total eine Rolle spielt.

Die Aktualität dieses Buches zeigt sich beispielhaft an dem nachfolgenden Foto zwölf Jahre nach dem Erscheinen des Buches. Das Foto zeigt teilweise das, was das Buch meint:

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Es ist entsicherte Fotografie, die unterschwellige Botschaften versendet.

Das Foto ist aus einem Bus der Stadtwerke Remscheid und lädt zu einer Sportlerehrung ein. Stadt, Stadtwerke, Sportbund Remscheid und Stadtsparkasse sind die Sponsoren, die Bergische Morgenpost ist dabei, und wie selbstverständlich wird ein Motiv gewählt, das an kriegerischer Substanz kaum zu überbieten ist.

Oder sieht dies irgend jemand anders?

Bei Telepolis haben die beiden Autoren damals gesagt, worum es ihnen geht: „Andererseits behaupten wir durchaus, dass die Entwicklung der realen Kriege, die sowohl durch den Interventionismus der internationalen Staatengemeinschaft unter der Führung der USA als auch durch die Entstaatlichung der regionalen Konflikte unter dem Vorzeichen einer globalisierten Ökonomie charakterisiert sind, in einem Zusammenhang steht mit neoliberalen Normen der Konkurrenz und Performanz und deren Verarbeitung in der westlichen Massenkultur.

Eine These des Buches lautet daher sicherlich, dass die „neuen“ Kriege und die „neuen“ Ökonomien gleichermaßen auf dem Prinzip des Ausnahmezustands gründen, den sie auf Dauer stellen. Dieser Ausnahmezustand wird aber nicht nur militärisch und ökonomisch produziert, sondern vor allem auf dem Feld der Kultur und der ideologischen Anrufungen. Hier findet der Diskurs über „Ehekriege“ und „Killerkids“ statt, die offene oder indirekte Militarisierung der sozialen Verhältnisse. Nicht wir sind es, die den Krieg auf eine Metapher „reduzieren“ – das erledigen Tag für Tag die Boulevardmedien, die Managementphilosophen, die Werbeagenturen usw.“

Sie sagten dies 2002 in der Hoch-Zeit der neoliberalen Ideologie mit den Hartz 4 Gesetzen, der Agenda 2010 und der Zerstörung des Sozialstaates.

Die Folgen sind bekannt, um nur

  • die Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten,
  • Entwertung von Bildung,
  • Bankenkrisen,
  • unvorstellbare Anhäufung von neuem privatem Reichtum ohne staatliche Umverteilung,
  • zerstörerische Online-Spiele und
  • Egomanisierung durch social media zu erwähnen.

Im Zusammenhang mit visuellem Journalismus ist die Frage aus dem Buch interessant, was sich fotografisch und journalistisch geändert hat?

„Man müsse der Außenwelt so oft wie möglich vor Augen führen, was hier geschieht, schreibt die Fotografin Ursula Meissner über ihren Einsatz in Sarajewo… Dass Meissner im Fall von Vietnam die investigativen Journalisten überhaupt nicht mehr erwähnt, sondern nur noch die Fotografen und die Kameraleute deutet auf eine wichtige Verschiebung hin. Denn die Bewunderung für die Arbeit des Aufdeckens … ist mittlerweile vollständig von einem Kult der Nähe ersetzt worden – einem Kult der Augenzeugenschaft und Evidenz.“

Mittlerweile hat sich auch das noch verändert. Einige interessante Zugänge zu den Veränderungen sind:

Was wäre die „richtige“ Fotografie?
Verschweigen darf nicht sein, Veranschaulichen zum besseren Hinschauen muß sein. Daher sollten Fotos so ausgewählt und fotografiert werden, daß man hinschaut und nicht wegschaut. Das wiederum steht in einer langen Tradition der Kriegs- und Konfliktfotografie

Was nutzt die nackte Wahrheit, wenn sie keiner hören will und sie nichts ausrichtet? Dann ist Aufklärung sinnlos. Umgekehrt ist die pure Dokumentation oft die einzige oder wichtigste Aufzeichnung, so dass ein Foto mehr immer besser ist, zumal man nie weiß, was später wichtig sein kann. Und manchmal kommt es auf den Zeitpunkt an, um aufzuklären, so daß Sinnlosigkeit eine Frage des Zeitgeistes sein kann. Und der wandelt sich ständig.

Die Beteiligten an Konflikten kreieren zudem oft ihre eigene Bilderwelt. Man könnte auch von visueller Propaganda sprechen.

Das sind die Soldier Artists: „Seit dem Ersten Weltkrieg schickt die U.S. Army, ebenso wie Marine und Luftwaffe, so genannte Soldier-Artists an die Front. Egal ob Landung in der Normandie, Koreakrieg, Vietnamdesaster, Desert Storm, Somaliaeinsatz, Kosovo oder nun wieder der Irak, überall, wo amerikanische Truppen kämpften und kämpfen, wurden und werden sie von Kriegsmalern begleitet. Oft war es nur eine Hand voll Künstler pro Feldzug, und doch sind so in den letzten neunzig Jahren über 15.000 Arbeiten im Auftrag der Armee entstanden. Sie alle lagern in den Kellern von Fort Lesley und sollen den Grundstock eines noch zu bauenden zentralen US-Armeemuseums bilden. Spätestens 2009, verspricht Brigadegeneral John Brown, Chef des Army Center of Military History, soll es in Washington seine Pforten öffnen.“

Wenn man sich nun anschaut, wie das Buch „Entsichert“ damals rezensiert wurde und sich dann heute umschaut, merkt man, daß die Autoren Recht hatten.

Aber das spielt keine Rolle, weil es gegen die Botschaften der Interessen in den Massenmedien ist. Bei uns darf man heute fast alles schreiben, aber wenn es nicht in der Medienkarawane landet sondern abseits dieses Weges, dann findet es fast keiner, weil auch google z.B. fast nur das zeigt, was die Medienkarawane zeigt.

Im Ergebnis ist dieses Buch bis heute ein großer Wurf, um Entwicklungstendenzen in Medien und in unserer Zeit darzustellen. Es taucht aktuell in vielen Ein-Euro-Läden und Bücherkisten auf und lohnt sich, weil der Preis niedrig und der Wert hoch ist.

Denn wir lernen, warum die medialen Darstellungen um uns herum so stark militarisiert sind.

Wir lernen hinzuschauen.

Und wenn wir genau hinschauen, dann sehen wir, daß sich die Welt seitdem weiterentwickelt hat. Es gibt durch neue Techniken neue Möglichkeiten, diese kriegerischen Elemente noch weiter, detaillierter und tiefer in die Köpfe zu stecken.

Genau dies passiert.

So liefert das Buch die Brille fürs Gehirn, um zu sehen, wie es weitergegangen ist. Das neoliberale gemeinschaftszerstörende Denken ist mittlerweile im letzten Winkel angekommen und die wenigsten können dies sehen und noch weniger können darauf reagieren.

Aber das allein ist nicht der Grund für diesen Artikel. Wir sprechen in diesem Jahr auch über 100 Jahre Krieg von 1914 bis 2014. Dies ist Anlaß genug, um zurückzublicken und auch die Militarisierung des Alltags wieder einmal neu zu entdecken.

Dazu sind die Veranstaltungen der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft aktuell sicherlich ein guter Weg.

Und wenn ich mir das so überlege, dann bekommt auch der Begriff Frontlens-Fotografie von mir eine ganz neue Bedeutung als Festhalten der Frontlinien der Wirklichkeit. Es ist so auch die Begegnung mit dieser sozialen Komponente in der direkten fotografischen Konfrontation im Alltag.