Ich war noch nie in Sarajevo. Aber ich habe eine Beziehung zu diesem Ort, weil ich Bücher und Fotos über Sarajevo gelesen und gesehen habe und das, was andere zum Thema machten, weil sie sich mit Sarajevo beschäftigten.

„Ich habe die Belagerung von Sarajevo erlebt, und mich hat schockiert, wie wenig die Leute außerhalb von der Lage in der Stadt begriffen, obwohl der Krieg dauernd in den Nachrichten zu sehen war. Von 1993 bis 1995 war ich 14-mal in Sarajevo, und wenn ich zwischendurch nach Hause kam, haben mich Leute gefragt: Haben Sie je um Ihr Leben gefürchtet? Natürlich hatte ich Angst, die Bedrohung war überall, und ich habe erlebt, dass Leute direkt neben mir getötet wurden. Was in Sarajevo wirklich geschah, vermittelten die Bilder nicht.“

Das sagte Susan Sontag. Sie beschäftigte sich mit dem Bösen und dem Mitgefühl und der Macht bzw. Ohmacht von Bildern.

Später lernte ich die Fotojournalistin Ursula Meissner kennen. Sie machte mich auf das Buch Help my mit Fotos aus Sarajevo aufmerksam. Zudem war ihre Fotoausstellung im Kunstmuseum Solingen wirklich sehenswert und gehaltvoll.

Aber das war ja nicht alles.  Eines Tages las ich von Karl-Markus Gauß das Buch „Der Alltag der Welt“.

Dort schreibt er: „Zudem beklagt Goytisolo nicht nur, daß Sarajevo zerstört wurde, was ja viele tun, sondern er weiß auch, was da zerstört wurde. Für ihn, der die Geschichte Bosniens kennt und um die Vertreibung der arabischen und jüdischen Kultur aus Spanien trauert, war Sarajevo jener heilige Ort, der den vertriebenen Sepharden Aufnahme gewährte und über die Jahrhunderte die Begegnung jüdischer, arabischer und abendländisch-christlicher Kultur ermöglichte.“

Und somit entdeckte ich Goytisolo und Sarajevo und den Alltag unserer Welt, im Spiegel von Sarajevo.

Juan Goytisolo und sein Buch „Das Manuskript von Sarajevo“ über einen belagerten Bezirk in der Stadt passt zur Ausgangssperre bei Corona irgendwie gut und auch darüber hinaus.

Sarajevo wurde für mich zur Metapher von der Entdeckung des Menschen durch und mit Fotografie und ihren Grenzen.

Mit der Fotografie leben heißt die Grenzen, das Grauen und die Größe von uns Menschen sehen.

Das alles sammelte sich bei mir im Kopf durch die Bücher und die Menschen, die dies selbst in Sarajevo erlebt hatten.

So war ich dort ohne je dagewesen zu sein.

Ich nahm ihre Bücher und Bilder für die Welt wie es einst Sartre tat bis ich selbst damit im Kopf in die Welt trat und sah, daß überall Sarajewo war, nur eben nicht gleichzeitig.

Sarajevo ist aber noch mehr. Es ist für mich der Beleg für die Lebendigkeit von Büchern und Fotos, vom Aufschreiben und Aufnehmen, weil ich dort war und bin durch die Bücher und Fotos von meinen Mitmenschen.

Sarajevo ist ein Plädoyer für das Lesen, das Fotografieren und das Aufschreiben und für die Menschlichkeit in uns.

Das Soziale ist unser Schicksal und das Asoziale unsere Herausforderung.